In drei Wochen ist Bundestagswahl. Früher – ach was, noch vor wenigen Legislaturperioden hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich vor dem Ergebnis eines solchen Wahlsonntags mal Angst haben könnte. Wahlen waren immer eher etwas … unspektakulär. Man wählte, die Parteien, die am Ende im Bundestag landeten, unterschieden sich nicht allzu sehr voneinander, und großartige Änderungen waren daher auch nach einem Regierungswechsel kaum zu erwarten. Zumal die Welt im Großen und Ganzen um uns herum einigermaßen ruhig und friedlich war.
Trotzdem waren Wahlen für mich immer schon etwas Besonderes, weil ich mir schon sehr früh bewusst war, dass es ein riesiges Privileg ist, in einer funktionierenden Demokratie zu leben, selbst mitbestimmen zu dürfen, frei und geheim wählen zu können. Wählen zu gehen hatte daher immer auch etwas Feierliches an sich. Ich bin Teil einer Gemeinschaft von sehr unterschiedlichen Menschen, die zufällig oder bewusst in Deutschland leben, und die durch ihre Stimme die Richtung bestimmen, die dieses Land in den nächsten Jahren nehmen wird.
Dieses Privileg, diese Freiheit, diese Wählermacht ist nicht selbstverständlich und etwas sehr viel Fragileres, als ich mir das früher so wirklich vorstellen konnte. Ich wusste es aber sehr wohl, denn für Geschichte habe ich mich schon immer interessiert, und zu meiner Schulzeit war das Ende des zweiten Weltkriegs gerade mal fünfzig Jahre her. Das ist im geschichtlichen Gesamtzusammenhang eine verdammt kurze Zeit. Und die Nazizeit wurde im Unterricht in verschiedenen Fächern immer wieder behandelt – manchmal schon so viel, dass es uns zum Hals heraus hing, aber im Nachhinein bin ich froh darum. Wir haben auch „Die Welle“ von Morton Rhue gelesen und gesehen, und all das hat mich sensibilisiert dafür, wie leicht es ist, in die gleiche Falle zu tappen wie damals – und dass das nie wieder passieren darf.
Erschreckenderweise scheint das vielen Menschen heute anders zu gehen. Da das hier ja ein sehr buchiger Blog ist, mal ein Zitat aus einem der viktorianischen Krimis von Anne Perry, die ich vor Jahren mal sehr gerne aus der Stadtbücherei ausgeliehen und gelesen habe, und das ich nie vergessen konnte (sinngemäß, ich besitze die Bücher wie gesagt nicht und kann es nicht nachschlagen): „An dem Tag, an dem die Menschheit aus ihrer Geschichte lernt, werde ich die Wiederkunft des Herrn erwarten.“ Eine zynische Aussage, aber ich fürchte, es steckt sehr viel Wahrheit darin.
Ich überarbeite ja gerade „Grauwolf“, und darin habe ich eine Stelle, die ich sehr mag und die ich hier mal vorab mit der Welt (oder den paar Leuten, die hier mitlesen) teilen möchte, weil ich hinter dieser Aussage oder eher Erkenntnis, die Dachspiel hier hat, voll und ganz stehe. Kurze Erklärung: Dienstleister sind in der Welt bzw. dem Staat Trutznoila, in dem die Geschichte spielt, die Unterschicht, die mangels Bildung kaum eine Chance bekommen, sich in bessere Schichten hochzuarbeiten.
„Was für ein Bürgerkrieg?“
Dachspiel zwinkerte überrascht. „Was für ein … willst du mir sagen, du weißt nicht, dass es vor gut zwanzig Jahren einen Bürgerkrieg gab?“
„Hier?“
„Natürlich hier! Wo sonst? Ein Krieg, angefangen vom Turmherrn Goldreder Fangbaum in Turming gegen den König in Trutz. Ja, du warst da noch ein Säugling, aber du musst doch etwas davon gehört haben!”
„Wo denn? Von wem? Mein Vater hat über sowas nie geredet, und in der Schule war ich schließlich nicht.”
„Ach so”, sagte Dachspiel und fühlte sich nicht sonderlich intelligent, weil er darüber nie nachgedacht hatte. Es gab wirklich Menschen in Trutznoila, und zwar vermutlich nicht wenige, die keine Ahnung von der Geschichte des Landes hatten, nicht einmal von der unmittelbar vergangenen. Dienstleister lebten in einer Welt, die kein echtes Gestern und kein Morgen kannte, in der Dinge sich nicht aus der Vergangenheit herleiteten und erklärten, sondern einfach als gegeben hingenommen werden mussten. Erst, als er darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, wie viel es bedeutete, zu wissen, woher man kam. Wie konnte man verstehen, wer man selbst war, wenn man nichts über die Vergangenheit wusste außer dem eigenen, kleinen, begrenzten Leben?
Lernen aus der Geschichte bedeutet nämlich nicht, sie sich anzuschauen wie eine entfernte Landschaft und nur darauf zu achten, nicht genau das Gleiche falsch zu machen. Gerade das bedeutet es nicht. Es bedeutet zu verstehen, woher ich komme, woher die Ansichten, Glaubenssätze, kulturellen Gegebenheiten kommen, in und mit denen ich lebe. Es bedeutet zu verstehen, wie Menschen sind, wie schwach und klein und dumm – aber auch wie großartig und selbstlos und wunderbar. Es bedeutet, die Mechanismen von Macht und Ohnmacht zu begreifen, oder zumindest im Ansatz zu erahnen. Und daraus kann man dann lernen, nicht die gleichen Fehler zu machen – vielleicht. Wenn man sie denn als solche erkennt.
Nochmal ein Zitat von mir – diesmal aus dem „Siebten Raben“:
„Menschen sind oft sehr grausam“, sagte Anneke langsam. „Menschen denken viel zu oft nur an sich und kümmern sich nicht darum, wer unter ihren Taten leidet. So wie ich das mit Maleen gemacht habe. Oder die Jungen, die mich gestern Abend mit Dreck beworfen haben. Und Könige haben es noch schwerer, weil sie so viel Macht haben und so viel tun können, dass sie der Versuchung manchmal nicht widerstehen können und wie König Karl tausenden von Menschen Leid zufügen. Aber Menschen können auch ganz wunderbare Dinge tun und selbstlos sein und lieben und Dinge erschaffen, die anderen Freude machen. Menschen können sich für Frieden einsetzen und Dinge zum Besseren verändern. Menschen können eben im Unterschied zu den meisten Tieren Pläne machen und agieren und nicht nur reagieren, und je nachdem, wie sie das tun, leiden andere Lebewesen darunter oder sie profitieren davon. Ich glaube, Menschen sind sehr seltsame und komplexe Wesen. Kein Wunder, dass du wieder zurück in dein überschaubareres Krähenleben willst.“
In Zeiten wie diesen, mit all den Trumps, Musks, Orbans, Putins, Weidels, Lukaschenkos … – man kann sie schon gar nicht mehr alle aufzählen – und dazu den Menschen vom Typ Merz, die sich diesen Leuten immer mehr annähern, sie salonfähig machen, um mit ihrer Hilfe an die Macht zu kommen, beneide ich meinen Whiskey auch manchmal, der sich zwar mal mit seinen Herdengenossen zofft (auch das nur selten, weil seine Herde eine ausgesprochen harmonische ist), aber keine Zukunftsangst kennt, weil er immer im Hier und Jetzt lebt.
Wir dagegen kennen eine Zukunft und eine Vergangenheit. Und bei allem Bemühen um Achtsamkeit und die Gefahr, sich in der Vergangenheit oder in Zukunftsängsten oder -plänen zu verlieren und das eigentliche Leben zu vergessen, das genau jetzt stattfindet, ist das doch auch ein großes Privileg – eben weil wir aus der Vergangenheit lernen können, um unsere Zukunft zu gestalten und zu verbessern. Wir können agieren, nicht nur reagieren. Wir können erschaffen und lieben und bessere Menschen werden. Oder wir können uns in „Wir gegen die“ einmauern und kleingeistig und grausam werden.
Wir haben die Wahl, nicht nur am 23. Februar. Und so sehr mir das alles Angst macht – ich sehe auch so viel, das Hoffnung macht. Menschen, die auf die Straße gehen und sich gegen AfD und Konsorten, gegen den Hass und die Selbstbezogenheit auflehnen. Menschen, die einander helfen. Menschen, die anderen Mut machen. Und ich will einer davon sein, auf meine kleine, unvollkommene, introvertierte Art.
Und ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben. Auch wenn es gerade manchmal schwer fällt.
Falls hier zufällig und unwahrscheinlicherweise jemand drauf stoßen sollte, der*die sich denkt: „Was soll ich wählen gehen, ändert ja doch nix“ – bitte, geht trotzdem wählen, auch wenn keine der Parteien völlig euren Ansichten und Wünschen entspricht, und auch wenn in allen Parteien Menschen sind, die euch nicht gefallen, die Fehler machen und oft sich selbst am wichtigsten sind. Geht wählen, auch wenn wir gerade eine Koalition hinter uns haben, die sich gegenseitig blockiert hat und wo sich keine der beteiligten Parteien mit Ruhm bekleckert hat. Geht wählen, auch wenn die Kompromisse, die in einer Demokratie geschlossen werden müssen, euch am Ende immer wieder nicht gefallen werden – aber das liegt in der Natur der Sache. Wir sind nun mal viele mit vielen Meinungen. Und wenn wir nicht lernen, Kompromisse zu akzeptieren, kann eine Demokratie nicht funktionieren. Schwarz-Weiß-Denken ist so gut wie immer ein Problem. „Wir“ sind nicht die Guten und in allen Dingen im Recht. Und „Die“ sind nicht die Bösen und immer im Unrecht. Aber bitte helft mit zu verhindern, dass wir die Fehler der Vergangenheit wiederholen und Empathie, Freiheit und Offenheit verlieren.
So, und jetzt lade ich das hoch, auch wenn es sich irgendwie komisch anfühlt, sowas zu posten. Aber es musste einfach raus.
Bravo! Danke für diesen Beitrag!
Danke fürs Lesen und die Rückmeldung! 🙂
„… bitte, geht trotzdem wählen, auch wenn keine der Parteien völlig euren Ansichten und Wünschen entspricht, und auch wenn in allen Parteien Menschen sind, die euch nicht gefallen, die Fehler machen und oft sich selbst am wichtigsten sind.“
Ich habe vor einiger Zeit eine Aussage gelesen, die die Wahl einer Partei mit einer Fahrt mit dem Öffentlichen Nahverkehr verglich. Normalerweise fährt man nicht von seiner Haustür direkt an sein Ziel, aber man kann sich informieren und das Verkehrsmittel wählen, dass dem Ziel am nächsten kommt. Keine Partei wird dir ein Programm anbieten, dass 100%ig deinen Vorstellungen und Werten entspricht, aber es ist relativ einfach genügend Informationen von den Parteien direkt zu bekommen, um herauszufinden, welche Partei zumindest Großteils die gleichen Prioritäten setzt.
Das ist eine sehr schöne Metapher, habe sie inzwischen schon im Gespräch gebraucht. Und es ist wirklich nicht schwierig – wenn ich an meine erste Wahl denke, das war die Bundestagswahl 1998 … da hat mein Bruder mir (auch schon übers Internet, aber über eine Mailingliste oder sowas) von allen Parteien die Wahlprogramme bestellt, und die habe ich dann durchgearbeitet (also, manche auch nur überflogen oder entsetzt mit spitzen Fingern meinem Geschichts- und Politiklehrer übergeben – es waren halt wirklich alle Parteien dabei, auch sowas wie NPD … damals war das noch eine anrüchige Kleinpartei, und wer sowas wählte, posaunte das nicht in die Öffentlichkeit raus – so ändern sich leider die Zeiten …). Heute kann man auch einfach sowas wie den Wahl-O-Mat benutzen und hat in kurzer Zeit schon mal eine gute Einschätzung, in welche Richtung es gehen könnte.