Wolfgang Vorländer: Schnee auf Gottes Händen

Für diese Rezension – oder was auch immer das hier wird – muss ich ein bisschen (oder eher: ein bisschen viel) weiter ausholen und mich quasi outen – in geistlicher Hinsicht, nämlich als, wie man das heute so schön nennt, postevangelikal.

Ich bin schon seit einigen Jahren dabei, mich freizuschwimmen. Ballast loszuwerden, Weite zu entdecken, endlich durchzuatmen. Weil ich viel zu lange geglaubt habe, dass ich alles genau so glauben müsse, wie ich es vorgelebt bekam. Weil ich dachte, dass ich richtig glauben müsse, dass ich eine innere Sicherheit bräuchte, eine Klarheit, ein festes Fundament. Dass ich Gott und Jesus nur dann lieben könnte, wenn ich genau das glaubte, was eben richtig war. Was angeblich ganz klar in der Bibel stand und wo ich Häkchen dran setzen könnte. Und wenn ich das nicht täte, wenn ich anders dächte, wenn ich Dinge anzweifelte, in Frage stellte, gar als problematisch und schrecklich empfand, dann wäre ich damit schon dabei, vom richtigen Weg abzuweichen und würde Gott und seine Liebe und den Himmel damit verlieren.

Ich hätte das auch damals nie so formuliert. Ich hätte immer gesagt: Nein, natürlich muss ich mein Hirn nicht abschalten, natürlich sind Zweifel erlaubt, natürlich nehme ich die Bibel nicht wörtlich (tatsächlich war ich auch z.B. nie Kreationistin). Aber faktisch war es eben doch so, dass ich nur diese eine Lesart der Bibel, die pietistisch-evangelikale nämlich, als heilbringend ansah. Alles andere war irgendwie vom Teufel und brachte einen vom richtigen Weg ab und von Gottes Liebe weg.

Und je älter ich wurde, desto weniger konnte ich damit umgehen, dass sich in mir eine zunehmende Schere auftat zwischen dem, von dem ich glaubte, dass ich es glauben müsste, und dem, was ich tatsächlich glauben konnte. Ich habe lange versucht, das zu verdrängen, einfach nicht darüber nachzudenken, weil ich eine schreckliche Angst davor hatte – und ehrlich gesagt auch immer noch oft habe, wobei ich inzwischen auch begriffen habe, dass das Verdrängen letztlich noch viel gefährlicher ist –, meinen Glauben dabei ganz zu verlieren. Und das will ich mir nicht einmal vorstellen. Ein Leben ohne Gott, das klingt für mich wie ein Leben ohne Sonne. Nicht vorstellbar, dunkel, kalt und vor allem: tot. Und damit meine ich jetzt nicht mal das ewige Leben, sondern das Leben hier. Denn Gott bedeutet für mich Leben, Freude, Schönheit – all das, was mich staunen lässt.

Und von diesem minimalen theologischen Startpunkt aus fange ich gerade an, ihn neu zu entdecken und endlich als das zu lieben, was er (oder sie oder they oder so, Gott hat kein Geschlecht, aber ich finde es einfacher, die Pronomen und Bezeichnungen zu benutzen, die sich seit Jahrhunderten eingebürgert haben und die ich eben auch so gelernt habe) für mich sein möchte.

Dazu musste und muss ich zuerst den besagten evangelikalen Ballast loswerden – wobei ich wohlgemerkt auf gar keinen Fall sagen möchte, dass evangelikaler Glaube falsch sei oder so! Also, die Auswüchse davon, vor allem die in den USA, halte ich schon für unfassbar grundfalsch, aber das ist nochmal ein anderes Thema, und ich kenne und liebe sehr viele evangelikal geprägte Christen, die einen ganz wunderbaren Glauben haben, der sie sehr glücklich macht, und an dem mir vieles immer noch sehr gut gefällt. Aber so, wie ich ihn gelernt habe, passt er einfach nicht mehr zu mir. Und anzuerkennen, dass es andere Wege zu Gott geben kann, dass ich nicht an ihm vorbei laufe, wenn ich nicht den gespurten Pfaden folge, die vielen meiner Glaubensgeschwister doch so offensichtlich gut tun – das war und ist einfach schwer.

Ich habe in diesem Prozess viele Bücher gelesen: Rob Bell (bisher nur sein Buch über die Bibel, das mich letztlich nicht ganz so sehr abgeholt hat wie erhofft, müsste ich aber vielleicht beizeiten nochmal lesen), Sarah Bessey („Out of Sorts“), Peter Enns („The Bible Tells Me So“, „The Sin of Certainty“ – beides sehr gute Bücher, letzteres habe ich gerade zum zweiten Mal durchgelesen, im Grunde geht es darin um genau das, was ich oben ausgeführt habe – dass man eben nicht richtig glauben muss und kann, sondern dass Gott mein Vertrauen will, gerade dann, wenn ich ihn und die Bibel nicht verstehe!), Rachel Held Evans („Faith Unraveled“, „Inspired“ – genauso gut!), Thorsten Dietz („Sünde“, „Weiterglauben“) … Letzteren mag ich sowieso schon sehr lange, auch seine Vorträge bei Worthaus und den fantastischen Podcast „Das Wort und das Fleisch“ . Ebenso tut mir Martin Benz‘ Podcast „Movecast“ immer wieder sehr gut.

Aber die meisten davon sind am Ende vor allem für meinen Kopf gut. Das ist sehr wichtig, weil da eben so viel verstopft ist von vermeintlichen Dogmen und Glaubenssätzen und Traditionen – aber das ist eigentlich der geringere Teil dessen, was Glauben bedeutet.

Denn Glauben ist Vertrauen. Und Vertrauen kann ich mir nicht anlesen oder -denken. Vertrauen muss in meinem Herzen wachsen, und so sehr ich Worship-Veranstaltungen nicht mehr mag, weil sie nur kurzfristig die Gefühle hochpushen – Gefühle an sich sind ein wichtiger Teil von mir als Mensch, und auch die brauchen Nahrung, genauso wie mein Verstand. Und Vertrauen und Glauben braucht Nähe, sich fallen lassen können und nicht nur ein theoretisches Konstrukt durchdenken.

Und damit komme ich schließlich doch noch zu dem Buch, das ich eigentlich hiermit rezensieren will.

Ich habe es vor dem Abriss des Hörbüchereigebäudes meiner Arbeitsstelle vor dem Container gerettet, weil der Titel so interessant klang und es eben sonst eh in den Müll gewandert wäre. Das Buch ist von 2014, also gerade mal zehn Jahre alt (als ich es mitnahm, waren es erst fünf … auha, die Zeit vergeht so schnell …), und ich habe bislang von dem Autor noch nie gehört – vermutlich, weil er eben nicht in der evangelikalen Bubble unterwegs ist.

Es handelt sich hier um ein kleines Büchlein in Reclam-Format vom Gütersloher Verlagshaus, 192 Seiten mit kleinen … wie nenne ich es? Szenen vielleicht. Die Prämisse des Buches ist, dass dem Autor, einem evangelischen Pfarrer, immer wieder irgendwo Gott begegnet. Zufällig, in verschiedenen Situationen, und Gott in Breitcordhosen oder im Sportoutfit, je nachdem. Man trifft sich, trinkt einen Kaffee zusammen (den der Autor am Ende oft bezahlt, weil Gott vorher verschwindet), rudert auf einem See oder sitzt auf einer Bank und spricht über dies und das. Und das ist einfach sehr erfrischend und berührend und teils provokativ – Gott ist anders. Und außerdem ist Gott, das sagt er selbst immer wieder deutlich, natürlich eine Imagination des Autors. Aber eben auch nicht. Diese Vorstellung von Gott ist es – so wie jede Vorstellung von Gott immer „durch einen Spiegel in einem dunklen Bild“ ist (1. Korinther 13,12).

Die „Gespräche“, die sich in diesem Büchlein finden, sind vielseitig, humorvoll, oft tiefsinnig und gedankenanregend und immer wunderbar warmherzig. Und für sehr fundamentalistisch Glaubende sicher auch teilweise etwas ketzerisch – Gott hält Tabubrüche zum Beispiel für wichtig, flippt bei der Erwähnung von Kreationisten aus, zitiert muslimische und hinduistische Weisheiten und braucht auch mal jemanden zum Reden, ist eben sehr menschlich …

„Ich spüre nur eins: In seiner Gegenwart ist es erlaubt und erwünscht, alles zu denken. Ohne Angst und Skrupel. Mit ihm im Gespräch zu sein erscheint mir jetzt als das sofortige Ende aller Ideologie, aller philosophischen Systeme. Das Aus für jede Theologie, die so tut, als kenne sie die Antwort.“

Für mich ist das alles jedenfalls ein kleines Schatzkästchen geworden. Ich werde das Buch noch sehr oft in die Hand nehmen und aufatmen – vielleicht ist Gott wirklich so. Vielleicht ist er ein manchmal verschroben wirkender, weil letztlich unverständlicher, aber dabei unfassbar liebevoller Typ, der mir nah sein möchte und einfach mal auf einen Kaffee vorbeikommt, und dann reden wir ein bisschen.

Ich weiß nicht, ob das irgend jemand, der diesen Blog liest, nachvollziehen kann, aber für mich ist das ein wahnsinnig schönes und hilfreiches Bild, das mir viel von dem Druck wegnimmt, den ich so verinnerlicht habe. Und darum bin ich gerade sehr froh, dass ich das Buch damals mitgenommen habe, ohne zu wissen, was es ist.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Konstanze

    Ich muss gestehen, dass Religion und Glaube Themen sind, die mir sehr fremd sind. Und je älter ich werde, desto schwieriger finde ich diese Themen, weil da so ein ganzer Rattenschwanz an Problemen dranhängt. (Ich werde nie die Kommilitonin vergessen, die behauptete, dass sämtliche Fehler in Bibelübersetzungen gottgewollt wären …)

    Aber ich finde es gut zu lesen, dass du dabei bist deinen eigenen Weg zu deinem Glauben zu finden und dass dir dieses Buch dabei wieder ein Stückchen geholfen hat. Ein Glaube (oder gar eine Glaubensgemeinschaft), der (die) zu Druck führt, scheint mir keine gute Variante von etwas zu sein, das – meinem Verständnis nach – doch eigentlich seine Angehörigen auf einen guten Weg führen sollte.

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