Eine Erzählung aus Altann, genauer: aus Ospeton, vor einigen Jahrhunderten, als der Kontakt und Handel zwischen Ospeton und Lan gerade erst begonnen hatte.
Jarî fuhr aus dem Tiefschlaf hoch und fand sich erst nach einigen Augenblicken völliger Desorientierung mit rasendem Herzen auf ihrem eigenen Lager wieder, Nouwâns Hand an ihrer Schulter. Jetzt griff er sogar noch fester zu.
„Bist du verrückt? Was ist denn los? Du tust mir weh!“, stieß Jarî hervor.
Nouwâns Griff lockerte sich, aber er ließ die Hand, wo sie war. „Jarî!“, flüsterte er. „Jarî, Jarî, es ist … ich habe ihn gesehen! Mit meinen eigenen Augen! Er wird … Wir sind gezeichnet … verloren!“
Jarî packte das Handgelenk ihres Mannes und zog ihn zu sich herum. „Was faselst du da? Du hast schlecht geträumt, leg dich hin und lass mich schlafen, du Verrückter!“
Im Licht der Laterne, die neben dem Bett stand, sah sie Tränenspuren auf Nouwâns Wangen glitzern. In seinen Augen leuchtete das Weiße deutlich hervor, so weit hatte er sie aufgerissen. „Ich habe nicht geträumt. Es war ein Geist, ein Lirikoj, ein echter Lirikoj, und er wollte in mein Gesicht fliegen und durch die Nase in meinen Kopf, oh, Jarî, er wird es noch tun, wenn wir nicht aufpassen, im Schlaf wird er … wie in den Geschichten! Oh, Azaiaha, rette uns!“
Ein Lirikoj? Unwillkürlich schauderte Jarî. Liwairikoj waren bösartige Geister, die in Menschen eindrangen und sie übernahmen, zu willenlosen Puppen machten, die ihren bösartigen Plänen dienten – und dabei war der Mensch bei vollem Bewusstsein, konnte aber nichts gegen den Geist tun, der ihn steuerte … Und solch ein Geist war hier in ihrem Haus? Schweiß brach ihr aus allen Poren, und ihr Herz pochte schon wieder in doppeltem Tempo in ihrer Brust. Nouwân drückte sich an sie und schluchzte leise.
Das brachte Jarî wieder zu sich. Liwairikoj waren Wesen aus der Sage. Es gab sie nicht wirklich. Sie glaubte nicht an all diese Dinge, sie war eine Frau des Verstandes, sie war eine Händlerin, sie hatte einen Gast aus dem fernen Lan zu Gast, einen Fremdling – sollten diese Fremdlinge denken, in Ospeton fürchte man sich vor Schatten und Kinderschreckgestalten?
„Du hast keinen Lirikoj gesehen, Nouwân. Wahrscheinlich war es nichts als ein kleiner Gleiter oder ein Steinkäfer, der sich ins Haus verirrt hat.“
„Nein! Es war ein Lirikoj! Es war weiß und schwirrte auf der Stelle, es hatte einen Stachel im Gesicht, mit dem es sich wahrscheinlich von innen an die Augen heftet, oh, Azaiaha! Und es war größer als ein Steinkäfer, und seine Augen waren riesig und leuchteten so unheimlich gelb …“ Er schluchzte wieder auf und krallte sich an Jarîs Arm fest.
So sah kein ihr bekanntes Tier des Waldes aus. Jarî versuchte, die Panik wegzuschlucken, die sich wieder in ihr bilden wollte. Wenn es doch nicht nur Geschichten waren, wenn die Götter sie für ihren Unglauben strafen wollten mit diesem Geist als Boten ihres Zorns …?
„Wo hast du ihn gesehen?“ Die Worte pressten sich nur schwer durch ihre verengte Kehle.
„Im Flur. Wollte austreten, und da war er plötzlich vor mir und –“
Ein Klopfen unterbrach ihn. Jarî fuhr mit einem kleinen Schrei hoch, während Nouwân aufstöhnend zusammensackte.
„Verzeihe“, tönte eine Männerstimme durch die geschlossene Holztür, und Jarî holte mehrfach tief Luft. Der Fremde, es war nur der Fremde!
„Ist etwas gescheh?“, fragte er mit seinem schrecklichen Akzent. „Ich höre Schrei. Kann helfe?“
„Nichts“, brachte Jarî mit Mühe hervor. „Es ist nichts!“
„Gut“, sagte der Laner. „Oh, ihr sehe mein Ilf, nicht tot mache! Ist weg aus Kasten.“
Jarî schüttelte Nowâns Hand ab, die sich immer noch um ihren Unterarm krallte, und stand auf. „Wie bitte?“
„Mein Ilf! Nicht weiß Wort Ospetonju.“
Jarî öffnete die Tür. Der Fremde stand davor, das seltsam helle Haar vom Schlaf zerzaust. „Ilf“, sagte er noch einmal. „Klein Tier, so …“ Er zeigte mit den Fingern etwa eine halbe Hand an. „Fliegt, ist weiß. Mein Tier. Bring Glück, wenn haben.“
Langsam dämmerte Jarî, dass sich hier die Auflösung des Rätsels darbot. Der Druck hob sich von ihrer Brust und sie atmete tief durch. „Es fliegt, das Tier, ja? Hat es einen Stachel?“
Er schüttelte den Kopf, verstand nicht. Sie deutete etwas langes vor ihrer Nase an.
„Ja, ja, trinkt damit Blumen!“
Blumen! Ein unbändiger Lachreiz überfiel Jarî, dem sie nicht widerstehen konnte. Blumen trank das Wesen, keine menschlichen Willen – ein Haustier, nichts als ein fremdes, lanisches Haustier hatte Nouwân gesehen! Sie kicherte noch, während der Laner einen freudigen Ruf ausstieß und mit beiden Händen nach etwas griff.
„Hab es! Warte, bis in Kasten, dann ich zeige!“, rief er und verschwand im Gästeraum.
Jarî drehte sich zu Nouwân um, der sie immer noch mit großen Augen vom Lager her anstarrte. „Hast du nicht verstanden, du furchtsamer kleiner Mann? Ein Haustier ist es, das dem Laner entwischt ist. Komm schon her, Nouwân, und lass es uns gemeinsam ansehen. Es war kein Lirikoj, es gibt keine Liwairikoj.“
Langsam rappelte sich Nouwân auf. „Es gibt sie“, murmelte er, während er neben Jarî trat. „Vielleicht war das hier keiner, aber es gibt sie.“
Jarî schüttelte den Kopf und legte den Arm um seine Hüfte. Wie konnte ein so großer, starker Mann solche Angst vor allem Übernatürlichen haben – all dem, was man nicht sah und was doch wohl nur in der Einbildung existierte?
Jetzt trat der Laner wieder aus seinem Zimmer, in der einen Hand einen kleinen, hölzernen Käfig und in der anderen eine Laterne. „Hier“, sagte er. „Sehen?“
Jarî trat vor, während Nouwân ein Stück zurück wich. Zwischen den eng gesetzten Gitterstäben konnte sie ein kleines Wesen erkennen, das sich mit zwei dreifingrigen Pfötchen an den Stäben festhielt. Es stand auf zwei muskulösen, gewinkelten Beinen und war von einem weißen, flaumig wirkenden Fell bedeckt. Große, bernsteinfarbene Augen und ein Rüssel dominierten den länglichen Kopf, und auf seinem Rücken saßen zwei durchscheinende Flügel. Es zitterte am ganzen Körper.
„Schau nur, Nouwân, das ist dein Lirikoj – er zittert vor Angst und trinkt Blumen aus.“
Nouwân versuchte ein höfliches Grinsen, das ihm nur schlecht gelang.
„Verzeih“, sagte der Laner. „Hat erschreck? Verzeih.“ Er verbeugte sich, und Jarî lächelte ihm zu.
„Es ist ja nichts passiert. Gut, dass das kleine Wesen nun sicher ist und nicht mehr vor Angst zittern muss. Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“, wiederholte der Laner.
In ihrem Käfig saß Pasri und zitterte vor Wut. Fast hatte sie es geschafft, endlich zu entkommen, endlich hatte der Großling die Tür nicht richtig verschlossen, endlich hatte sie die Freiheit schon riechen können – sie war in einem fremden Land und völlig allein, aber das war gleichgültig, wenn sie nur endlich frei wäre … Aber dann war dieser andere Großling gekommen und hatte geschrien mit seiner langsamen, tiefen Stimme, die jedes Mal Pasris ganzen Körper in Schwingung zu versetzen schien, und sie hatte keine Öffnung gefunden, bevor ihr eigener Großling auftauchte und sie wieder einfing.
Es würde immer so weitergehen, Mond um Mond würde sie in diesem verdammten Käfig sitzen und zuhören, wie die Großlinge in ihrer unfassbar langsamen Sprache redeten – ja, sie redeten, Pasri wusste das, sie verstand inzwischen sogar oft, was sie sagten, sie waren klug wie Ilfen, Geschöpfe mit einem Verstand wie sie. Und doch taten sie, als wären Ilfen nichts als Tiere, die man in Käfige sperren und in fremde Länder mitnehmen konnte, wie es einem beliebte.
Pasri krallte sich an den Gitterstäben ihres Gefängnisses fest und wünschte sich mit aller Macht, sie hätte ihre Freiheit genutzt, um dem Großling mit einem Holzsplitter die Augen auszustechen – die einzige Möglichkeit, die sie hatte, um ihm heimzuzahlen, was er ihr antat.
Aber die Freiheit war ihr wichtiger gewesen als die Rache.
Und sie war es noch immer.
Irgendwann würde es ihr gelingen, zu entkommen.
Irgendwann und irgendwo.