„Dachspiel.“

Die gespannte Erwartung in den Gesichtern der versammelten Verwandtschaft wich verständnisloser Überraschung. „Was?“, entfuhr es Rotstern, dem Thronfolger.

Die Stimme des Königs war ruhig, aber scharf wie ein frisch geschliffenes Messer. „Dachspiel. Mein dritter Sohn wird ab heute den Namen Dachspiel Baumname tragen.“

Der soeben neu benannte junge Mann wandte den Blick nicht vom Gesicht seines Vaters. Er sah den Triumph in seinen Augen, die Abscheu, die sich in dem merkwürdigen Namen bündelte und so weit öffentlichen Ausdruck fand, wie es nur möglich war, ohne die Ehre der Familie vor aller Welt zu beschmutzen.

„Was ist die Geschichte?“, fragte sein Onkel Mondreiter.

„Ich werde sie nicht erzählen. Fragt ihn selbst. Fragt Dachspiel. Ich bin sicher, er weiß, was ich meine.“

Er hatte es bis gerade eben nicht gewusst. Aber die Stimme seines Onkels, ausgerechnet dieses Onkels, brachte ihm mit einem Schlag einen Sommerabend zurück, die Nacht vor einem anderen Namensfest – die Nacht, bevor Rotstern seinen Namen bekam …


„Du gehst hier öfter raus, oder?“

„Klar.“

„Und was machst du normalerweise da draußen?“

„Was man auf einem Dach halt so macht: nicht runterfallen und anderen Leuten ins Schlafzimmer gucken.“

Jungmondreiter lachte glucksend. In seiner linken Wange bildete sich dabei ein Grübchen. Während Jungmonds Cousin das verstaubte Dachbodenfenster öffnete und auf das zum Innenhof führende Dach des Trutzer Palastes kletterte, dachte er darüber nach, wie es wohl wäre, kein dritter Sohn mit noch einem jüngeren Bruder, sondern auch ein Einzelkind zu sein. Jungmond war ein paar Monde über vierzehn, ein halbes Jahr jünger als er selbst, aber er hatte schon ein eigenes Pferd, und sein Vater war unübersehbar stolz auf den wohlgeratenen Sohn und machte auch keinen Hehl daraus. König Baumname erwähnte seinen dritten Sohn vor anderen meist nur dann, wenn es sich nicht umgehen ließ.

Dreijungbaumname blieb auf dem Dach vor dem Fenster hocken und versuchte sich darüber klarzuwerden, was größer war: seine Zufriedenheit darüber oder die Sehnsucht, einen Vater zu haben, der ihn mochte. Aber er brauchte sich nur für einen Moment seinen Vater vor Augen zu rufen, die kalten Augen, die harten Hände, den verkniffenen Mund und die Arroganz in seinem Gebaren, um diesen törichten Gedanken gleich wieder ad acta zu legen. Nein, er wollte überhaupt nicht, dass dieser Mann stolz auf ihn war.

„Wolltest du jetzt vor dem Fenster übernachten? So wahnsinnig gemütlich finde ich es auf dieser Leiter auch wieder nicht!“, ertönte es hinter ihm, und Dreibaum rutschte zur Seite, damit Jungmond seinen schwarzen Wuschelkopf durchs Fenster stecken und schließlich ganz herausklettern konnte.

„He, das ist ja echt genial, wie weit man von hier aus gucken kann! Ist das da hinten schon Außentrutz?“, fragte er mit blitzenden Augen, während er sich aufrichtete. Der frische Wind, um diese Nachtzeit trotz der Sommerhelligkeit recht kühl, blies ihm die Locken ins Gesicht.

Dreibaum folgte seinem Blick und grinste. „Sei froh, dass ich kein Steinbergvierteler bin, sonst würde ich dich für die Bemerkung wohl vom Dach schubsen. Nee, du, Außentrutz ist noch eine ganze Ecke weiter weg. Und da sieht’s nun wirklich anders aus als im Steinbergviertel.“

„Woher weißt du das? Warst du schon mal da?“, fragte Jungmond, lachte und kniff seinem Cousin in den Oberarm.

„Au. Ja, war ich.“

Jungmond riss die Augen auf. „Du willst mich veräppeln, oder?“

„Nein, ich war schon da. Bin halt neugierig, also bin ich einfach mal abgehauen und hin. Erst mit einem Postwagen, dann zu Fuß. War ganz interessant.“

„Oh mann, Drei, du hast echt einen an der Waffel. Alleine ins Dienstleisterviertel zu marschieren bringst auch nur du fertig.“

Dreibaum hob die Schultern und sagte nichts darauf.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Jungmond und rieb sich fröstelnd die Arme.

„Klettern“, erwiderte Dreibaum, „Was denn sonst?“

Also liefen sie los, immer schneller über das schräge Dach, stolperten, fingen sich wieder und lachten nur darüber. Sie stachelten sich gegenseitig auf, kletterten über Erker, hangelten sich über schmale Passagen, in denen nur eine Reihe Ziegel und die Dachrinne sie von einem tiefen Fall in den inneren Schlosspark trennten, rutschten auf dem Hintern auf metallenen Eckverbindungen hinunter und hockten sich schließlich irgendwo keuchend auf ein Walmdach, die Beine zu beiden Seiten herunterhängend und einander zugewandt.

„Ich glaube, ich mag Dächer“, sagte Jungmond und lachte wieder, so dass sein Grübchen erschien.

„Ist dir noch kalt?“, fragte Dreibaum.

„Kein Stück. Ich könnte glatt was ausziehen.“

„Mach doch“, sagte Dreibaum, „Ist ja kein Erzieher da, der es dir verbieten könnte. ‚Ihr werdet euch erkälten, Königssohn, ich bestehe darauf, dass Ihr die gefütterte Jacke anbehaltet, auch wenn es Hochsommer ist und die Dienstleister nur noch im Trägerhemd rumlaufen! Dienstleister haben eine andere Konstitution, die können das ab, und außerdem ist es um die ja nicht schade. Aber Ihr!‘“ Er fand, dass er den Tonfall seines eigenen Erziehers sehr gut getroffen hatte.

Jungmond kicherte. Dann öffnete er ohne ein weiteres Wort die oberen Knöpfe seines Wollhemdes und streifte es über den Kopf. „Jetzt du“, sagte er herausfordernd und schaute seinem Cousin voll ins Gesicht.

Dreibaum zögerte nicht lange. Gleich darauf lag sein Hemd neben dem Jungmonds über dem First des Erkers. „Und jetzt gehen wir weiter“, sagte er. Jungmond nickte nur. Schweigend turnten sie mit nackten Oberkörpern über das von der tiefstehenden Mitternachtssonne rötlich beleuchtete Dach. Wie auf ein geheimes Zeichen blieben sie irgendwann stehen und schauten sich an. Dreibaum spürte, wie ihn im kalten Wind eine Gänsehaut überlief, trotzdem fasste er gleichzeitig mit Jungmond nach seinem Hosenknopf. Wieder landeten zwei Kleidungsstücke nebeneinander irgendwo auf dem Dach.

Als sie auch die Kniestrümpfe loswurden, war sich Dreibaum nicht mehr sicher, über welcher Stelle des Palastes sie sich gerade befanden, aber es war auch egal. In diesem Moment zählte nichts als das irgendwie geheimnisvolle und beinahe unerträglich aufregende Prickeln, das sich über seinen Körper ausbreitete, während seine und Jungmonds nackte Füße über die Ziegeln huschten; langsamer jetzt als vorher, um nicht mit den Zehen in die Spalten zu geraten.
Und dann standen sie schließlich in einem Dachwinkel, und als Dreibaum seine knielange Unterhose auszog, folgte ihm Jungmond sofort.

Jetzt waren sie völlig nackt. Es war unerhört, wahnwitzig und großartig. Und schrecklich kalt.

„Weiter“, forderte Jungmond, also kletterten sie noch ein Stück irgendwo über das weite Dach des Palastrundes, während der Wind über ihre bloßen Glieder fuhr und sie langsam wirklich ernsthaft zu frieren begannen.
Irgendwo hockte Jungmond sich schließlich an die Dachkante und schaute in den Palastpark hinunter. Dreibaum hockte sich neben ihn, so dicht, dass er ein wenig von Jungmonds Körperwärme spüren konnte.

„Was glaubst du, wie spät es ist?“, fragte Jungmond und zitterte ein bisschen.

„Keine Ahnung. Nacht halt.“

„Hu, ist mir kalt.“ Jungmond grinste.

„Mir auch. Hoffentlich finden wir die Klamotten überhaupt wieder.“

„Sonst hüpfen wir halt nackt wieder rein. Das gibt einen Aufstand!“

Dreibaum nickte. „Allerdings. Und das einen Tag vor Jungbaums Namensfeier. Au weia.“

„Klingt nicht betrübt, eher zufrieden, wie du das sagst.“

„Stimmt. Jungbaum ist blöd. Außerdem macht es Spaß, wenn alle sich aufregen.“

Jungmond kicherte und schlang die Arme um den Körper.

Dreibaum schaute ihn von der Seite an. „Wir könnten uns ja kurz gegenseitig wärmen, bevor wir uns auf die Suche machen.“

„Oh ja“, sagte Jungmond und stand auf. Dreibaum folgte ihm, und vorsichtig, als könnten sie sich dabei verletzen, umarmten sie sich. Dreibaum spürte jeden Zentimeter von Jungmonds Haut ganz bewusst. Kühl war sie zuerst, genauso wie seine eigene, aber trotzdem irgendwie warm. Es war ein gutes Gefühl. Und nebenbei wärmte es ihn tatsächlich. Aber daran dachte er kaum. Er rieb mit den Händen über Jungmonds Rücken, um dessen Blutkreislauf anzuregen, fühlte die einzelnen Wirbel unter seinen Fingern und spürte gleichzeitig Jungmonds Hände auf seinem eigenen Rücken. Er dachte nicht darüber nach, als er sein Gesicht näher zu Jungmonds brachte, als sich ihre Nasen berührten und er ihn schließlich sanft auf den Mund küsste.

„Was machst du denn?“, fragte Jungmond, ohne ihn loszulassen, und kicherte leise.

„Hmmm“, machte Dreibaum nur, während sein Herz so schnell klopfte, dass er spürte, wie es gegen seine Rippen drückte.

„Ich glaub, das ist total verboten“, sagte Jungmond, und dann rieb er seine Nase an Dreibaums und küsste zurück.

„Schön …“, sagte Dreibaum, während sie sich langsam voneinander lösten. „Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?“

Jungmond schüttelte den Kopf.

„Glaubst du, das ist anders?“

„Keine Ahnung. Bestimmt, sonst würden es doch nicht alle tun. Und das hier wäre nicht verboten.“

„Hm“, machte Dreibaum, diesmal nachdenklich, und löste seinen Blick von Jungmond. Wenn er ihn ansah, konnte er nicht nachdenken. Komisch. Warum war es denn eigentlich verboten? Was war denn so verkehrt daran, sich zu berühren und zu küssen? Oder mehr zu tun … aber den Gedanken verbot er sich doch schnell. Das war wirklich sehr, sehr streng verboten, und wenn er daran dachte, spürte er, wie er es wollte. Unbedingt.

In genau diesem Moment erkannte er die Dächer vor ihnen, und die verbotenen Wünsche verschwanden wie von einem kalten Wind erfasst und davongeweht.

„Ach du dicke Scheiße!“, stieß er hervor, packte Jungmond am Arm und zog ihn mit sich in die Hocke, „Schnell, wir müssen weg hier!“

„Warum denn?“

„Das Fenster da vorne ist das von Vaters Schlafzimmer!“

Jungmond starrte ihn erschrocken an. „Glaubst du, er hat uns gesehen?“

„Blödsinn, es ist doch mitten in der Nacht, und wir haben ja keinen Krach gemacht“, sagte Dreibaum ungeduldig. „Trotzdem – lass uns lieber hier verschwinden!“

Sie hasteten davon, jetzt war es irgendwie kein Spiel mehr. Schnell, nur schnell weg von den Fenstern. Aber als sie ihre Unterhosen erreichten und anzogen, beruhigte sich ihr Pulsschlag bereits, und sie grinsten sich zu. Schließlich war gar nichts passiert. Rein gar nichts.


„Dachspiel …“

Er schaute auf, als er den Namen hörte, vom zweiten Königssohn Flügelhand mit etwas wie überheblichem Ekel ausgesprochen, als sei es ein unangenehmes Insekt oder eine faulige Frucht.

Sein Vater schaute ihn weiterhin an, auch er mit Verachtung im Blick. Er hatte sie also doch gesehen damals, ihn und Jungmond, dort auf dem Dach. Jungmond, den er danach nur noch einmal gesehen hatte, bevor er so unglücklich vom Pferd stürzte und starb. Wie würde wohl er heute auf den Namen reagieren? Dachspiel wusste es nicht. Wahrscheinlich würde er sich schämen, so wie jeder anständige Mensch das tun würde.

Aber er selbst war nun mal nicht anständig.

Ein breites Lächeln begann sich auf seinem Gesicht zu bilden. Dachspiel. Der Name sagte viel aus und doch wenig. Es war sein Name. Ein guter Name.

„Ich danke für den Namen, Vater“, sagte er. Der Triumph in den Augen des Königs flackerte, und das war ein ausgesprochen befriedigender Anblick.

Er wandte sich zu den Gästen um. „Ich habe einen neuen Namen. Ich bin Dachspiel Baumname. Die Geschichte werdet ihr von mir genausowenig hören, das weiß der König sehr gut. Denn sonst hätte er es nicht gewagt, mir diesen Namen zu geben. Aber“, und damit wandte er sich Baumname wieder zu, „er ist ausgesprochen treffend gewählt.“ Er lächelte breit und hielt den Blick seines Vaters so lange fest, bis dieser wegschaute, angewidert, verwirrt und so weit unterlegen, wie es für einen königlichen Vater unter seinen Sohn überhaupt möglich war.

„Dachspiel …“ Der junge Mann, der nie wieder ein Dreijung sein würde, sprach seinen neuen Namen beinahe zärtlich aus. „Ich bin stolz, diesen Namen zu tragen. Ihr hättet mir keinen besseren aussuchen können.“

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