„Brunnentaucher. Mein Sohn heißt Brunnentaucher Erdherz.“ Stolz erfüllte die Stimme des Vaters, als er den Namen verkündete. Der Großvater des neubenannten jungen Mannes und sein Onkel begannen zu klatschen, die Cousins fielen ein, und die Frauen lächelten glücklich und stolz.

Jungerdherz testete den Namen in Gedanken und befand ihn für gut. Ein wenig sperrig, aber gut. Doch, damit ließe es sich leben. Auch wenn er sich ein klein wenig wunderte, dass sein Vater ausgerechnet diesen Namen gewählt hatte. Es hätte schließlich viele Möglichkeiten gegeben.

„Die Geschichte brauche ich im Grunde nicht zu erzählen, ihr kennt sie alle“, fuhr sein Vater mit seiner Rede fort. „Aber ein Namensfest ohne Namensgeschichte ist nur halb so gut, und ich denke, ihr werdet sie genauso gern noch einmal hören, wie ich sie erzähle.“

Brunnentaucher schaute seinem Vater in die vor Stolz leuchtenden Augen und war froh, dass er ihm eine so große Freude machen konnte. Oder gemacht hatte. Oder hätte machen können? Wie auch immer: Erdherz war glücklich, also war sein Sohn es auch. Gebannt lauschte er seiner eigenen Geschichte.


Er war vierzehn gewesen zu dem Zeitpunkt, seine Schwester zwei. Es war ein heißer Sommertag, irgendwann im späten Hitzemond. Seine Mutter drückte ihm Jungblütenhand in den Arm: „Sei so lieb, mein Junge, geh mit ihr ein bisschen nach draußen zum Spielen.“

Er gehorchte gern. Er liebte seine kleine Schwester, seit sie auf der Welt war und er nicht mehr das einzige Kind. Mutter war ruhiger geworden, seit sie da war, und Vaters Blick wurde ganz weich, wenn er den braunen Lockenkopf seiner Tochter streichelte, während sie ihm sinnlose Geschichten vorplapperte. Und Jungerdherz selbst war auf einmal ein großer Bruder. Die Kleine hing an ihm wie eine Klette, seit sie laufen konnte, und er liebte alles an ihr.

Also nahm er auch jetzt gern ihre kleine Faust in seine Hand und stiefelte mit ihr hinaus in den Sonnenschein. Zuerst fand sie einen kleinen Käfer, den sie mit gerunzelter Stirn genau begutachten musste. Er stand geduldig neben ihr und wartete, bis sie genug von dem Krabbeltier hatte und mit ihren dicken, kurzen Beinen zu laufen anfing, ins hohe Gras hinein, das hinter dem Haus wuchs und in Kürze abgemäht, getrocknet und für den Winter eingelagert werden würde. Die Feds, die sein Vater züchtete, brauchten Futter. Aber noch stand die Wiese ihnen zum Spielen offen, bis zur Heuernte würde sich das Gras längst wieder aufgestellt haben, das sie nun platt traten. Er tobte mit der Kleinen über die Wiese, tat so, als könne er sie nicht fangen, und sie kreischte vor Vergnügen, bis er sie schließlich doch packte und im Kreis um sich herumwirbelte. Sie jauchzte noch lauter und sagte dann, als er sie absetzte: „Dust, Jung! Hab Dust!“

Jungerdherz schaute auf sie hinunter und spürte, wie der Schweiß seinen Hals kühlte und kitzelnd den Rücken hinunterlief. Durst hatte er auch. „Komm“, sagte er, nahm sie hoch und ging mit ihr zum Brunnen hinüber, der hinter einer Bodenwelle einige hundert Fuß vom Haus entfernt lag.

Es war ein tiefes Loch, gespeist von einer unterirdischen Quelle, die in Jahrhunderten den felsigen Boden weit hinunter ausgewaschen und ausgefroren hatte. Das Wasser war zwar eiskalt, aber in heißen Sommern wie diesem taute es trotz des Permafrostbodens weit genug auf, dass das Eis unter dem Wasser nicht mehr zu sehen war. Ein stabiler Zaun aus Hartgras war um die Öffnung herum aufgestellt worden, damit niemand hineinfiel.

Jungerdherz setzte seine Schwester davor ab und befahl ihr, schön da sitzen zu bleiben, während er Wasser holte. Die Tür des Zauns schloss nicht mehr richtig, also zog er sie nur lose hinter sich zu, bevor er sich an den Rand des Loches kniete und hinunter in die kalte Tiefe schaute. Ein eisiger Luftstrom zog vom Wasser her zu ihm hinauf und erfrischte sein erhitztes Gesicht. Er nahm den ledernen Eimer auf, der an einem Pfosten seitlich festgebunden war, und ließ ihn ins Wasser hinunter.

In diesem Augenblick hörte er tapsige Schritte hinter sich – und bevor er sich auch nur umdrehen oder ihr etwas zurufen konnte, war seine kleine Schwester schon am Rand des Loches angekommen. Er griff nach ihr – zu spät, mit einem erschrockenen kleinen Schrei rutschte ihr Fuß von der bröckeligen Kante des Loches ab, und sie fiel wie ein Stein hinunter. Es platschte und spritzte, dann verschwand sie unter der Wasseroberfläche. Jungerdherz brauchte einen ewig scheinenden Augenblick, um zu begreifen, was da gerade passiert war. Dann hörte er sich selbst schreien, laut und angstvoll, aber das brachte Jungblütenhand nicht zurück. Der Eimer hing neben ihm in den Schacht hinunter. Er folgte dem Strick mit den Augen, dann riss er sich die Schuhe von den Füßen und sprang seiner Schwester nach.

Das Wasser war so kalt, dass er für einen Moment keine Luft mehr bekam. Panisch schlug er mit den Armen um sich, dann überwand sein Körper den Schock. Aber er wusste, dass er nicht viel Zeit hatte. Sehr schnell würde die Kälte ihn lähmen, und dann würde er hier unten ertrinken. Er holte tief Luft und tauchte unter. Wo war seine Schwester? Ein heller Schatten flimmerte im tiefen Dunkel auf. Ihr Kleid? Es war seine einzige Chance. Er ruderte mit den Armen, tauchte so gut er konnte dorthin, wo er den Schemen gesehen hatte, langte nach vorn und packte zu. Ein Arm, Stoff, sie war es. Er zog sie mit sich, strampelte mit den Beinen, der Atem wurde ihm knapp. Er musste es schaffen, er musste!

Die Oberfläche kam näher, leuchtendes Licht, gebrochen vom aufgewühlten Wasser. Er brach durch und schnappte nach Luft, schob den kleinen Körper hinauf. „Atme!“, krächzte er, aber sie hörte nichts, das Gesichtchen weiß, die Augen geschlossen, Wasser lief an ihren Wangen hinab und tropfte aus den Locken. Er schluchzte auf, aber er wusste, hier konnte er nichts tun, nicht hier unten, zuerst musste er sich und sie ins Trockene und Warme bringen, sonst würden sie beide auskühlen und ertrinken. Der Rand war hoch über ihm, aber er schaffte es, den schlaffen Körper seiner Schwester hochzuhieven und über die Kante zu rollen.

Nun er selbst. Sein Körper fühlte sich steif an vor Kälte, die Arme gehorchten ihm nur mühsam, als er nach dem Seil des Eimers griff, sich hochzog, abrutschte und wieder ins Wasser fiel. Er tauchte wieder auf, spuckte Wasser aus und kämpfte sich zum Eimer zurück. Noch einmal packte er nach dem Strick, krallte sich daran fest – diesmal musste er es schaffen! Mit einer fast übermenschlichen Anstrengung kletterte er aus dem Wasser und zog sich mit letzter Kraft über die Kante.

Nur einen winzigen Augenblick blieb er in der warmen Sonne liegen, dann robbte er zu seiner Schwester hinüber, die immer noch dalag wie tot. War sie es etwa? Verzweifelt warf er sich über sie und blies ihr in die Nase, wieder und wieder – und dann hustete sie plötzlich, spuckte Wasser und schlug die Augen auf. „Kein Dust meh!“, sagte sie, und Jungerdherz schluchzte erleichtert auf und drückte sie an sich.

Zuerst wollte er seinen Eltern nichts davon sagen, damit sie sich nicht aufregten, die Kleider von der warmen Sonne trocknen lassen und so tun, als sei nichts geschehen – aber Jungblütenhand fing bald an zu weinen. „Nass!“, jammerte sie und verlangte schließlich so durchdringend nach Mama, dass ihm schließlich nichts anderes übrig blieb als ins Haus zu gehen und alles zu erzählen.


„Und darum ist Brunnentaucher der Name, der meinem Sohn zur Ehre gereicht“, schloss Erdherz die Geschichte ab. Sie war deutlich kürzer geraten als das, was sich in der Phantasie seines Sohnes abgespielt hatte, während er sprach, aber darum nicht weniger bewegend. Und nicht weniger wahr.

Brunnentaucher atmete tief durch und schaute zu Jungblütenhand hinüber, die ihn anstrahlte. Sie verstanden sich immer noch gut, auch wenn er jetzt ein Mann war, mit etwas Glück bald in der Kriegerausbildung, und sie ein kleines Mädchen von sechs Jahren. Ein solches Erlebnis schweißte eben zusammen, auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte.

Und auch wenn es eigentlich nur eine Kelle Wasser gewesen war, die sie sich schneller über den Kopf gegossen hatte, als er es verhindern konnte, woraufhin sie anfing zu heulen, so dass er sich genötigt sah, lachend den Rest des Wassereimers in einem Schwall eiskalten Wassers über sich auszuleeren, um sie zu trösten. Leider hatte das allerdings auch nichts geholfen, also war er tropfend mit seiner ebenfalls tropfenden kleinen Schwester ins Haus gegangen und hatte seinen Eltern das erzählt, was sie lieber hören wollten als diese profane kleine Geschichte. „Mein Verstand, seid ihr etwa in den Brunnen gefallen?“, hatte seine Mutter mit vor Schreck schriller Stimme gerufen, und Jungerdherz war ihrem Wunsch gerne nachgekommen.

Beide Geschichten waren wahr, die eine nur auf eine andere Art als die andere, auch wenn er inzwischen längst wusste, dass das außer ihm keiner verstand. Darum hatte er ja auch nie jemandem von Eimer und Kelle erzählt. Es würde nur alle betrüben, während die andere Wahrheit sie so glücklich machte.

Brunnentaucher lächelte stolz. Es war ein guter Name.

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